DE EN
   
    Landia StiftungHuman ApplicationsRegular CrisisProjekte

Im Sog der Krise

von ANJA KLEINMICHEL

Kristjan Järvi holt mit einer Multimediakantate die Politik auf die MDR-Konzertbühne

"Regular Crisis", Krise als Normalzustand, ist Titel des von Chefdirigent Kristjan Järvi kuratierten und geleiteten MDR Musikfestivals im Oktober, das neben sinfonischen Klassikern auch Steve Reich, Bryce Dessner und Frank Zappa auf die Bühne bringt. Experimentiert wird auch mit künstlerischen Formaten.
So ist das Thema der "Regular Crisis" einer gleichnamigen Videoarbeit der Künstlerin Marina Landia entlehnt. Sie generiert ihr Filmmaterial aus Interviews mit Führungskräften der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt zu Fragen der Finanzkrise; zu Wort kommen beispielsweise José Ángel Gurria, Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Daimler-Aufsichtratsvorsitzender Manfred Bischoff und Medientykoon Steve Forbes.
Durch die formal kunstvoll arrangierte Konfrontation teils konträrer Positionen entstehen Spannungen, die in Symbiose mit Live-Musik erstaunliche Wirkungen entfalten. Als Soundtrack erklingt eine Zusammenstellung aus Werken von Louis Andriessen, Bryce Dessner und Jonny Greenwood, sowie von Kristjan Järvi selbst. Kreuzer unterhielt sich mit Marina Landia, Jahrgang 1960, über "Regular Crisis".

Wie kam es dazu, dass das Wirtschafts- und Finanzwesen in den Fokus Ihrer künstlerischen Arbeit gerückt ist? 

Ich kam 1992 aus Georgien nach Deutschland. Es gab bei uns einen Bürgerkrieg, das System ist blutig kollabiert. Mein Ehemann war politisch aktiv, wir kamen als politische Flüchtlinge. Es war für mich ein kompletter Neuanfang, und Kapitalismus war für mich ein Riesenthema. Alle Künstlerkollegen waren superkritisch gegenüber dem ökonomischen System. Ich hatte immer nur Zweifel, ob ich überhaupt eine Position habe und was diese Position ist. Ich wollte eine Methode finden, mit der man tief in Systeme eintauchen kann, ich wollte Zugang zu den Prozessen und Denkweisen und nicht mit irgendeiner Alibi-Information abgespeist werden. Um irgendetwas Relevantes darüber zu machen, musste ich mit Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft persönlich konfrontiert sein. 

Sie generieren Ihr Videomaterial in Interviews mit Spitzenkräften aus der Industrie und Finanzwelt. Wie gehen Sie dabei vor?

Ich verlange eine Stunde Zeit mit meinem Gegenüber. Weniger geht nicht, denn in zehn Minuten bekäme man nur kontrollierte Antworten. Ich führe das Gespräch aus einer unvoreingenommenen Position heraus. Ich habe meine Themen, aber nichts weiter dabei, die Unterhaltung ist ein intuitiver Prozess. Danach habe ich eine Stunde Rohmaterial, das lasse ich erst einmal liegen. Später lerne ich das, was diese Leute sagen, auswendig, und irgendwann spüre ich: Einiges fühlt sich wie Fake an, oder ich habe es schon einmal gehört. Und dann gibt es Momente, wo man ein bisschen stolpert. Diese benutze ich ausschließlich, alles andere nicht. Ich nutze von einer Stunde ungefähr drei Minuten, es sind diese Augenblicke, in denen sich etwas offenbart.

Sehen Sie sich selbst dabei als neutrale Beobachterin oder hat Ihre Arbeit einen kapitalismuskritischen Ansatz?

Kunst ist eine Möglichkeit, Komplexität zu zeigen, ohne das auf eine Schwarzweiß-Ebene zu reduzieren. Ein wissenschaftlicher Artikel über dieselben Themen und nach zwei Minuten wären die Leute weg. Kunst hat Methoden, Spannungen zu halten und das Interesse zu forcieren. Einfach klar und stimmig zu erklären, was in Zukunft anders gemacht werden könnte, wer schuld ist in einer Krisenzeit wie dieser, ist nicht möglich. Mich interessiert zu sehen, welche Teile des Systems in sich stimmig wirken, ob das System modifikationsfähig ist und wer in welcher Form davon profitiert. Durch den Schnitt und die Entscheidung, welche Aussage ich mit welcher konfrontiere, welche ich verwerfe, ist irgendwo meine subjektive Lesart da. Es gibt aber keine klare Aussage von mir. Alle meine Fragen sind ja herausgeschnitten, ich bin nicht präsent.

Ihre Videoarbeit ist nun erstmals in einer Symbiose mit Musik zu erleben. Wie ist es denn zur Zusammenarbeit mit Kristjan Järvi gekommen?

Ich halte mich eher für eine Nischenkünstlerin. Kristjan sagte aber: Lass uns dieses Material öffnen für jedermann. Er hat keine Angst vor dem Risiko. Für ihn ist Kunst ein Werkzeug, Leute mit unbequemen Dingen der Realität zu konfrontieren. Die Musik lässt dich nicht los, du kannst nicht aufstehen und gehen, du bist schon im Rhythmus, fast schon in Trance durch diese Stücke, die wir ausgewählt haben. Die Musik hat aber auch Kommentarfunktion. Sie erklärt Details. Ich war erstaunt, wie viel Potential im Verlinken von gesprochenem Wort und Musik steckt. Manchmal behauptet jemand etwas, die Musik stellt es in Frage. Musik öffnet Räume, die man eher intuitiv versteht.

Ist die Musik genau auf das Video zugeschnitten?

Es war schwierig, Musik zu finden, die hier entsprechend Spannung und Ambivalenz transportiert. Wir kamen dann auf Louis Andriessen, das ist sicher kein Zufall, er hat sich selbst als Künstler immer gesellschaftskritisch engagiert. Auf einmal passte es. Ich habe alles Filmmaterial, das ich hatte, nach dem Prinzip der ausgesuchten Musik neu geschnitten. Der Film folgt der Musik. Eigentlich ist es ein 45-minütiger Musikclip. 
Regular Crisis: 8.10. 20 Uhr, Gewandhaus, Großer Saal    

aktuell Aktuell
 
Kontakt